Coronachancen

Ein letztes Mal im Schwimmbad gestern, draußen Bahnen schwimmen in der Herbstsonne. Mir kam der Gedanke, dass die Mittagspausenschwimmer heute friedlicher unterwegs waren als sonst. Irgendwie lag ein freundliches Einverständnis in der Luft, dass wir alle dieses letzte Mal vor dem Lockdown genießen wollen. Wir Menschen auf der ganzen Welt sind gemeinsam in einer so seltsamen Zeit, einem Zustand, wie ihn keiner von uns zuvor erlebt hat. Für diesen Zustand müssen wir neue Werte entwickeln, unsere eigenen Maxime finden, wie wir selbst am besten durch die Zeit kommen. Für diesen Umbruch und das neue Denken brauchen wir Zeit.

 

Vielleicht sollten wir Corona annehmen als eine Aufforderung zum Winterschlaf, der absoluten Ruhe, in der wir uns Gedanken machen über unser Leben, wie wir es führten und wie es weitergehen soll. Wir fahren jetzt alles runter, gehen auf Energiesparmodus und verrichten unsere Arbeit von zu Hause. Dass es ein großer Luxus ist, wenn man so weiterarbeiten kann, ist mir mehr als bewusst. Noch mehr ist mir bewusst, wie glücklich man in der Familie aufgehoben ist und wie unendlich traurig es für viele ist, die alleine leben. Für die Menschen in Altenheimen, denen durch Corona die wenigen echten Kontakte entzogen werden. Als ich eben eine Dokumentation hörte, in der eine beeindruckend starke ältere Dame ihr Leben im letzten Lockdown beschrieb, hatte ich einen dicken Kloß im Hals und mir kam Rilkes Herbsttag in den Sinn,

„Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.

Wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben,

und wird in den Alleen hin und her

unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.“

 

Wohl dem, der aus all dem hier nun etwas Schönes machen kann, der an der frischen Luft wandern kann, der lesen und Briefe schreiben kann, der durch all das wachsen wird. 

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Kommentare: 5
  • #1

    Editha (Freitag, 30 Oktober 2020 18:53)

    Ein sehr tröstlicher und anregender Text, dazu die Herbstgedanken von Rilke! Danke �

  • #2

    Nicola (Samstag, 31 Oktober 2020 13:59)

    Sehr schön, gerade im Zusammenhang mit dem Gedicht. Ich habe auch das Gefühl, dass die Zeit die Novemberstimmung noch verstärkt - positiv wie negativ.

  • #3

    kristina (Samstag, 31 Oktober 2020 14:06)

    Oh wie schön, das freut mich, mir gefiel die Idee mit dem Winterschlaf, warum sind wir nur keine Bären...:-)

  • #4

    Michael (Sonntag, 15 November 2020 17:28)

    Eine wohltuende Perspektive.Danke fûr die Worte. Mich haben sie aufgebaut

  • #5

    Kristina (Sonntag, 15 November 2020 19:02)

    Das freut mich! Was will man mehr an einem Novembertag..:-